in real life

Die tote Kuh

Jablonowo Pomorskie. Ein kleiner Ort in Polen und mein erster Umsteigebahnhof auf dem Weg nach Hause. Von einem Regionalzug in den nächsten, um dann ins wunderschöne Torun zu fahren, wo ich anderthalb Stunden Aufenthalt haben werde, bevor ich das lange Stück nach Gorzow Wielkopolski fahre. Dann noch ein paar Meter mit einem weiteren Regionalzug und ich bin bereits wieder in Deutschland, in Köstrin. Von da aus ist es nur noch ein Katzensprung bis Berlin.

Für meinen Geschmack muss ich ein bisschen zu oft umsteigen, zumal ich mit schwerem Gepäck von der Paddeltour unterwegs bin. Aber für meinen Aufenthalt in Torun habe ich sogar noch Pläne. Etwas zu Essen möchte ich mir dort besorgen, vielleicht noch einen Blick auf die Altstadt werfen oder sogar auf die Weichsel, auf der ich am Ende sogar gepaddelt wäre, wenn ich die volle Tour gefahren wäre.

Der Zug nach Torun fährt von Bahnsteig 3 – Gleis 5 ab. Ich bin pünktlich dort und lasse mich von Eisenbahnromantik erfassen, als der rustikale, aber hübsche Zug einfährt. Ich setze mich in einen freien Vierer, mein Gepäck passt entspannt auf die Ablage über mir. Mir gegenüber nimmt ein nervöser Jugendlicher Platz, der professionell aussehende Rollerblades dabei hat und Kaugummi auspackt, um nicht den Anschein zu erwecken, er wäre vielleicht gar nicht so nervös, wie er aussieht.

Meine Reiselektüre ist ziemlich spannend, so bekomme ich erst gar nicht mit, wie der Zug mit Nachdruck am Bahnhof verharrt, statt sich in Bewegung zu setzen. Der Schaffner kommt vorbei und macht eine kurze Ansprache, von der ich kein einziges Wort verstehe.

In einem Land mit fremder Sprache unterwegs zu sein, ist nur so lange entspannt, wie alles nach Plan verläuft. Sobald etwas schief geht, ist man auf die Mithilfe anderer Menschen angewiesen. Ich vermute dahinter eine Metapher für das Leben. Zum Glück spricht mein Gegenüber ein paar Brocken Englisch und erklärt, dass ein kaputter Zug im Weg steht. Dauert höchstens eine halbe Stunde.

Eine Amerikanerin schräg gegenüber hält mich für einen Landsmann, weil ich ein englischsprachiges Buch lese. Ich versuche, nicht beleidigt zu sein und freue mich, ab jetzt zuverlässige und vollständige Übersetzungen zu erhalten, da sie ursprünglich aus Polen stammt und auf Familienbesuch hier ist. Dahinter steckte eine etwas komplexere Geschichte, die aber nachdrücklich an mir abperlt. Den mentalen Lotuseffekt schiebe ich darauf, dass ich bereits seit sechs Uhr auf den Beinen bin.

Der Schaffner tourt mal wieder durch die Waggons und hält mutmaßlich in jedem einzelnen die gleiche Ansprache. In dem rustikalen Zug gibt es genauso wenig Lautsprecher wie WCs.

Der Zug vor uns hat eine Kuh überfahren und ist deswegen fahruntüchtig. Unsere Aufgabe ist es nun, diesen Zug zurück zum Bahnhof zu schleppen. Dauert höchstens eine halbe Stunde.

Der rustikale Zug setzt sich in Bewegung und durch das offene Fenster fliegt eine Biene herein, was die anwesenden Fahrgäste eine Weile gut unterhält. Ich bin in meine Lektüre vertieft und vergesse kurz, dass Bewegung nicht immer auch Fortschritt bedeutet. Schon wieder eine Metapher.

Es rumpelt ordentlich, was ich als Kopplungsmanöver interpretiere. Das bedeutet wohl, dass wir wirklich den kaputten Zug abschleppen. Ich gebe gerne zu, dass ich der Übersetzung zunächst nicht getraut habe, was an der Absurdität der ganzen Geschichte liegen mag. Jedenfalls fahren wir jetzt wieder zurück. Viel langsamer, als wir hingefahren sind. Am Bahnsteig fahren wir vorbei, bleiben kurz danach stehen. Es wird wieder gekoppelt, oder besser: Entkoppelt. Wir nabeln uns vom Hindernis ab. Die Metaphern übertreiben es heute.

Der Schaffner kommt vorbei und hält eine ausschweifende Ansprache. Ich lausche gebannt, auch den Rückfragen der anderen Reisenden und seinen Antworten. Als er im Nachbarwaggon verschwindet, suche ich den Blick meiner amerikanischen Freundin. Sie übersetzt: Almost.

Der Zug fährt weiter rückwärts. Viel zu weit, für meinen Geschmack, aber ich sehe ein, dass das mit Rangieren und Weichen zu tun hat und schon seine Richtigkeit haben wird. Dann bleibt der Zug stehen und fährt wieder vorwärts. Diese Vorwärtsbewegung hat erneut einen beruhigenden Effekt auf mich, vollkommen zu Unrecht übrigens.

Wir bleiben im Bahnhof von Jablonowo Pomorskie stehen, an einem anderen Bahnsteig. Auf der anderen Plattform steht der kaputte Zug, der von hier aus ziemlich intakt aussieht. Unser Freund, der Schaffner kommt mal wieder vorbei und spricht. Der Zug sei jetzt zwar aus dem Weg, dank unseres heldenhaften Abschleppmanövers – ich bin enttäuscht, dass niemand applaudiert – aber die tote Kuh läge noch auf den Gleisen. Die müsse da weg. Dauert höchstens eine halbe Stunde.

Ich hatte den Verdacht schon länger, aber mittlerweile macht sich Gewissheit breit: Ich werde meinen Anschlusszug verpassen. Meine gesamte Reiseplanung fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen und ich muss jetzt improvisieren. Dank Smartphone und Internet entscheide ich mich, den rustikalen Zug aufzugeben, Torun Torun sein zu lassen und einen Zug nach Posen zu nehmen, der wenig später aus Jablonowo Pomorskie abfährt. In ziemlich genau einer halben Stunde. Das Universum lacht mir ins Gesicht.

Nach rührseligem Abschied von meiner amerikanischen Freundin und ihrer Familie, stehe ich wieder auf Bahnsteig 3 und Gleis 5 und sehe, wie der rustikale Zug Jablonowo Pomorskie verlässt. Ich schaue ihm wehmütig hinterher.

Das Abenteuer Ticketbuchung auf der Webseite der polnischen Bahngesellschaft geht erstaunlich reibungslos über die Bühne, als ein leichter Wind einsetzt. Das massive Bahnhofsschild über mir schwingt ominös und geräuschvoll hin und her. Ich gehe ein paar Schritte zur Seite. Ein junges polnisches Paar, das nie Final Destination gesehen hat, setzt sich direkt unter das Schild.

Die Abfahrtszeit meines neuen Zuges tickt mit einer Ereignislosigkeit vorbei, die sich nur durch die totale Abwesenheit meines Zuges auszeichnet. Eine Lautsprecherdurchsage ertönt. Ich verstehe kein Wort, nehme aber erstaunt zur Kenntnis, dass der alte Bahnhof über eine funktionierende Lautsprecheranlage verfügt.

Das junge Paar, das noch nie Final Destination gesehen hat, übersetzt für mich. Der Zug hat Verspätung. Dauert höchstens eine halbe Stunde.

Reisen als moderne, menschengemachte Zwischenwelt. Limbo zwischen Ursprung und Ziel. Ein transzendaler Zustand, voller Unwägbarkeiten. Wo Entscheidungen nicht immer in unserer Hand liegen, denen wir uns wehrlos ausliefern. Wo wir gemessen werden. Wo wir mitunter hängen bleiben, für lange Zeit. Oder gar für immer.

Ich werde nun verweilen, den Rest meiner Tage, hier in Jablonowo Pomorskie.