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Projekt K07 – Die Abschlussveranstaltung

Mit dem Projekt K07 hat Radio Fritz den Versuch gestartet, das aktuelle Kulturverständnis unserer Zeit und vor allem der Hörerschaft aufzuarbeiten. Dazu wurden unterschiedliche Aktionen im Radio und Web gestartet – dieses Blog hier zum Beispiel. Höhepunkt war der gestrige Abend, für den man im Radio seit Wochen Tickets gewinnen konnte und bei dem Clueso mit 30-köpfigem Synphonieorchester aufgetreten ist. Und da meine Freundin von Natur aus ein Glückspilz ist, war ich gestern mal wieder für lau im Postbahnhof.

Clueso
Clueso

Nun bin ich ja normalerweise sehr begeistert vom Postbahnhof, weil dort immer eine sehr nette Atmosphäre herrscht und die Damen und Herren von der Technik immer so einen wundervollen Ton in die Gemäuer zaubern. Gestern war ich allerdings ein ganz klein wenig angefressen, als mir der Security-Typ am Eingang meine Kamera abgenommen hat. Das Blitzlicht würde stören, meinte er. Ich will mich gar nicht aufregen, es gibt halt Regeln, die man akzeptieren muss. Ich habe da auch sehr viel Verständnis für die Bedürfnisse des Veranstalters. Auch wenn ich so gut wie nie bei Konzerten mit Blitz fotografiere. Auch, wenn mittlerweile jedes zweite Handy eine Kamera mit LED-Blitzlicht eingebaut hat. Selbst als ich feststellen musste, dass oben in der Gleishalle jeder andere mindestens drei vollwertige digitale Spiegelreflexkameras mit Binford Flashlight 3000!!! dabei hatte – ich blieb die Ruhe selbst. Stattdessen habe ich zum Handy meiner Freudin gegriffen, das fast genauso gute Fotos macht, wie mein eigenes, was ich ausnahmsweise mal nicht dabei hatte. Und ich blieb total entspannt und ruhig und besonnen.

Nach den anfänglichen Unannehmlichkeiten betraten wir eine bereits sehr gut gefüllte Gleishalle. Die K07-Abschlussveranstaltung war kein einfaches Konzert, der Kulturgedanke stand schon irgendwie im Vordergrund und das spiegelte sich auch im Programm wieder. Zuerst stand eine Talkrunde mit ausgewählten kulturschaffenden Gästen an, die ich allesamt nicht kannte. Für die Talkrunde gab es eine eigene Bühne, die gegenüber der Hauptbühne auf der anderen Seite der Halle aufgebaut war. Die Mehrheit aller Anwesenden zog es jedoch vor, sich schonmal gute Plätze für das Konzert zu sichern. Diese Raumaufteilung zusammen mit einer sehr schwachen Akustik zuzüglich mangelnder Disziplin sorgten dafür, dass zwei Drittel aller Anwesenden von der Diskussionsrunde nur sehr wenig mitbekamen. Man könnte sich auch die Frage stellen, ob der Rahmen für diese Talkrunde in der Form richtig gewählt wurde. Ich bin da ja skeptisch.

Überhaupt stell ich das Konzept ein wenig in Frage: Man verkauft und verlost Karten für einen Event, dessen herrausragendes Feature ein einmaliges Konzert mit 45-köpfigem Synphonieorchester ist. Man öffnet die Tore bereits anderthalb Stunden bevor der erste Programmpunkt losgeht. Nachdem in einer riesigen Halle tausende von Leuten bereits über eine Stunde rumstehen und warten, beginnt man mit einer Talkrunde, von der die Anwesenden nicht viel mitbekommen können und wollen. Wie gesagt, ich fands seltsam. Von Einlass bis Konzertbeginn sind mal eben zweieinhalb Stunden vergangen.

Ken Jebsen
Ken Jebsen hält seine Brandrede

Und dann beginnt das Konzert nicht einfach so. Exakt um 21 Uhr beginnt Ken Jebsen mit seiner Brandrede gegen die Massenkultur. Wohlgemerkt, eine Rede, die einfach nur genial jeden einzelnen Nagel auf den Kopf trifft. Eine wortgewandte und herrausragende Rede. Eine Rede, wie man sie von Ken Jebsen nicht anders erwartet hätte und die einen dennoch überrascht und erschüttert zurücklässt, weil sie eben Nägel auf den Kopf trifft. Eine wunderbare Rede also. Aber auch eine Rede, die sich über 5 DinA4-Seiten zieht und die die Geduld des mittlerweile seit zwei Stunden und 10 Minuten wartenden Publikums arg herrausforderte. Ich glaube, Ken hat da gestern einen neuen Rekord im Schnelllesen aufgestellt. Ich weiß ja nicht, wie das im Radio wirkte, aber vor Ort wirkte das sehr seltsam.

Clueso
Clueso

Dann endlich war es soweit. Das 58-köpfige Synphonieorchester hat bereits Stellung bezogen, das Licht wurde gedimmt und die ersten Streicher erfüllten den Saal mit lieblichen Klängen. Leider bekam man davon nicht viel mit, da das Publikum offenbar jegliche Geduld verloren hatte und pausenlos nach Clueso verlangte. Dieser ließ sich aber für die ersten paar Minuten nicht blicken und so ging das Intro des 66-köpfigem Orchesters erstmal halbwegs unter. Genauso wie Clueso selbst im Lärm der Massen, als er dann endlich die Bühne betrat und die mittlerweile seit zwei Stunden und 45 Minuten wartende Menge erlöste.

Clueso
Clueso

In den folgenden zwei Stunden wurden wir dann Zeugen eines fast einmaligen Konzerterlebnisses: Deutscher HipHop und Soul mit orchestraler Begleitung, sowas kriegt man nicht häufig zu hören. Vielleicht früher bei der Jazzkantine oder bei den Fantastischen Vier. Aber doch wiederum nicht in dieser Form. Das 73-köpfige Synphonieorchester ist allen genannten schon rein zahlenmäßig überlegen. Hinter dem Orchester saß zudem noch Cluesos Hausband und die Turntables durften natürlich auch nicht fehlen.

Tja, und dann muss ich natürlich noch ein paar Worte über den Künstler ganze vorn verlieren: Ich würde mich nicht als Clueso-Fan bezeichnen, jedenfalls nicht bis gestern Abend, aber seine Radiopräsenz hat es eigentlich schon immer angedeutet. Er hat immer schon mehr gemacht, als nur auf deutsch zu rappen. Seine Stimme sticht irgendwie herraus. Seine Songs sind von sich aus schon äußerst geschmeidig und groovig. Die Unterstützung eine 85-köpfigen Synphonieorchesters drängt sich hier förmlich auf. Und in der Tat passte das alles wunderbar zusammen. Bei Chicago hätt ich gestern Abend fast geheult, so gut hat das gepasst.

Clueso feat. Max Herre
Clueso feat. Max Herre

Zwischen den Songs von Clueso hat das 94-köpfige Synphonieorchester ein paar andere Werke zwischen geschoben, die so klangen, als hätte John Williams mal wieder einen oscarverdächtigen Soundtrack verzapft. Was wohl daran lag, dass die Stücke aus irgendwelchen oscarverdächtigen Soundtracks stammten – aus Metropolis zum Beispiel. Auf die mangelhafte Geduld und Disziplin im Publikum habe ich weiter oben bereits hingewiesen. Natürlich kann man auch hier das Konzept in Frage stellen, ein Pop-Konzert funktioniert eben anders, als ein klassisches. Während Pop einfach laut genug aufgedreht wird, um den Pöbel zu übertönen, verlässt sich die Klassik gerne darauf, dass die Zuhörer einfach mal die Klappe halten. Das taten sie gestern aber nicht. Vieles von dem, was Ken Jebsen in seiner Brandrede angeprangert hatte, traf auf seine eigenen Zuhörer vor Ort zu. Ich komm mir ziemlich spießig vor, sowas jetzt zu schreiben, aber es war echt bezeichnend, dass ein einfacher Technobeat mehr Stille ins Publikum gebracht hat, als alle Streicher und Bläser der Orchesters zusammen.

Trotz der vielen Kritik und all der Sachen, die am Ende vielleicht nicht ganz so gut funktioniert haben, wie sie geplant waren, war es doch ein sehr gelungenes Happening. Wir können froh sein, einen Radiosender wir Fritz in unseren Breitengraden zu haben, der sich für solche Aktionen einsetzt und Leuten wie Ken Jebsen ein monatliches Gehalt überweist. Mein ganz besonderer Dank gilt dem 100,5-köpfigem Synphonieorchester aus Tühringen, dass nicht nur gute Musik gemacht hat, sondern auch eine verdammt coole Figur da oben auf der Bühne. Respekt!

Kleine Distanzierung aus dem Jahre 2021: Ken Jebsen war früher mal n ziemlich cooler und innovativer Radiomensch. Damals war ich Fan. Das hat sich natürlich nicht gehalten, seit er sich nach seiner Radio-Zeit neu orientiert hat. Heute würde ich ihn nicht mehr so feiern.

  1. wow! die rede ist schon toll. das finden des sinn’s in oberflächlichkeiten. 😉
    schwerer tobak für ein konzert.mich wundert nur das ken nicht unter waffen gewalt von der bühne geholt wurde.

  2. @Isno: Nun ja, so genau weiß das eigentlich keiner. Ich hab nicht nachgezählt und was vorher so durch die Ankündigungen geisterte rangierte von 20-100.
    Es waren jedenfalls viele.

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  • sixumbrellas » Blog Archiv » Weit Weg - Live 20. Februar 2007

    […] Langjährige Leser werde sich erinnern: Clueso trat bei diesem besonderen Konzert in Begleitung der 127-köpfigen Stuba Philharmonie auf und dieses herausragende Konzerterlebnis kommt auch auf DVD noch wunderbar rüber. (Auch wenn […]

  • sixumbrellas » Blog Archiv » Clueso sehr dabei 20. Februar 2007

    […] auf dem Geburtstagsgeschenketisch liegen sah: Tickets für Clueso & Band im Berliner Lido. Das letzte Konzert mit des Thüringer Wunderknaben hat mich spontan Fan werden lassen. Jetzt ging es um das neue Album, dass noch nicht […]